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Sebastião Salgado: ein respektvoller Chronist

Wie kein anderer beherrscht Sebastião Salgado die Kunst der Schwarzweißfotografie, ohne dabei den Menschen die Würde zu nehmen. Dennoch wäre der Sozial- und Umweltaktivist in den Neunzigerjahren fast an seiner Spezies verzweifelt. Das Zürcher Museum für Gestaltung zeigt derzeit die Ausstellung »Genesis«, eine Fotoreportage, die dem heute 75-Jährigen die Seele rettete.

Er war ein Reisender in einer Welt voller Brutalität. Hat die Leichenberge in Ruanda, die ausgezehrten Flüchtlinge im Kongo gesehen, die brennenden Ölfelder Kuwaits, Hass und Verzweiflung im zerbrechenden Jugoslawien. Nicht nur ein paar Tage, über viele Monate recherchierte er vor Ort. Bis er es nicht mehr ertrug.

1944 im Südosten Brasiliens, dem »schönsten Land der Erde«, geboren, war Sebastião Salgado in einem Paradies aufgewachsen, wie er sagt: am Rand des Regenwalds auf einer Farm, wo es weder Arm noch Reich gab und man Nachrichten nur per Kurzwellenradio empfing (sofern es nicht regnete). Auf dem Pferd durchstreifte er das Rio-Doce-Tal, schwamm im Fluss unbeschwert zwischen Kaimanen, und was ein Telefon ist, erfuhr er erst, als er eine weiterführende Schule in der Hafenstadt Vitória besuchte. Damals erlebte Brasilien gerade eine Wirtschaftsblüte, und so schrieb er sich, nunmehr Student, an der Universität São Paolo begeistert für Ökonomie ein.

Dann aber putschte 1964, von der CIA unterstützt, das Militär. Für soziale Probleme längst sensibilisiert, engagierte er sich in der linken Opposition und musste schließlich – es folgte eine gnadenlose Repression – nach Frankreich emigrieren. An seiner Seite Lélia, eine angehende Architektin, ohne die sein späteres Werk nicht denkbar gewesen wäre. Er fand eine gute Anstellung bei der Internationalen Kaffeeorganisation in London, für die er als Ökonom Entwicklungsprojekte aufzog, lernte dabei Afrika, »die andere Hälfte Brasiliens«, lieben. Und fotografieren.

1973 pfiff Salgado auf ein sicheres Einkommen, machte sein Hobby zum Beruf und wurde ein Meister der Sozialreportage. Lebte unter den Goldschürfern im Norden Brasiliens, bei Kohlearbeitern im indischen Bihar, unter den Schiffsabwrackern Bangladeschs, den ZuckerrohrarbeiterInnen Kubas, gab Landlosen und Flüchtlingen ein Gesicht und machte die Weltöffentlichkeit mit seinen Schwarzweißaufnahmen zur Augenzeugin des Hungers, der Gewalt und Zerstörung (nicht nur) in Afrika. Dann streikte die Seele. An seiner Spezies fast verzweifelt, richtete er 2002 den Fokus auf das Unzerstörte, fotografierte Landschaften, Wildtiere und Menschen fernab der Zivilisation und schuf so »Genesis«, eine für ihn heilsame fotografische Liebeserklärung an die Natur.

Rund 120 Länder hat Salgado im Laufe seiner vierzig Jahre als Fotoreporter bereist. Er arbeitete für Agenturen wie Magnum und für Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, das UNHCR und das Internationale Rote Kreuz. Heute betreibt er auf seiner Farm das Umweltprojekt Instituto Terra, das mit bislang vier Millionen Baumsetzlingen erodiertes Land wieder zum Leben erweckt. Lélia Deluiz Wanick Salgado, Direktorin der Salgado-Fotoagentur Amazonas Images, Familienmanagerin und Ideengeberin, hat neben ihrer moralischen, operationellen und finanziellen Unterstützungsarbeit auch seine wunderbaren Bildbände und die Ausstellungen konzipiert und gestaltet. »Genesis«, Salgados Genesungswerk und Liebeserklärung an die Natur, ist noch bis 23. Juni im Zürcher Museum für Gestaltung zu sehen.

© Brigitte Matern, erschienen in seemoz am 3. Mai 2019

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